Doch gab es auch Meinungsverschiedenheiten. So verteidigte eine Schülerin das Erbrecht der Scharia, nach dem Frauen weniger erben als Männer. Eine konkrete Frage, bei der sich ein Dissens zwischen hergebrachten islamischen Rechtsvorstellungen und am Gleichheitsgrundsatz orientierten Menschenrechen nicht auflösen ließ.
Aber gerade das machte den Besuch von Frau Ates so wertvoll: Man versicherte sich nicht nur gegenseitig seiner Gemeinsamkeiten, sondern stritt auch offen über Wertekonflikte, die es in unserer Einwanderungsgesellschaft gibt. Dass die unterschiedlichen Kulturen in dieser pluralen Gesellschaft abgeschottet voneinander in Parallelwelten ihre je eigene Teilgesellschaft bilden – diese Gefahr sieht Seyran Ates im Konzept der multikulturellen Gesellschaft. Sie stellt ihm ihre Vorstellung einer transkulturellen Gesellschaft gegenüber. Darunter versteht sie eine Gesellschaft, in der Zuwanderer in mindestens zwei Kulturen zuhause sind: in ihrer Herkunftskultur, aber auch in der Kultur ihrer Aufnahmegesellschaft. Falls es zu unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen beiden Kulturen kommt, hat ihrer Überzeugung nach die Kultur der Aufnahmegesellschaft Vorrang. Entsprechend bekennt sich Ates vorbehaltlos zum Grundgesetz und sieht sich als Verfassungspatriotin: „Ein Land, in dem ich frei leben kann, nenne ich gerne mein Vaterland."
Dass nicht alle Schülerinnen und Schüler in der EMMA Seyran Ates' Vorstellungen teilten, zeigten weitere lebhafte Diskussionen nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung. Doch blieb der Ton der Auseinandersetzung immer respektvoll, und so erwies sich das Mörike-Gymnasium in dieser Veranstaltung einmal mehr als „Lernort für Demokratie".
Ein Bericht über den Besuch von Seyran Ates an unserer Schule erschien am 23. März 2023 in der Esslinger Zeitung (Link zum Bericht)